Sonntag, September 03, 2006

αμαρτία - Hamartia: Einsatzmöglichkeiten vergessener Konzepte der Dramaturgie

In den zeitgenössischen Drehbuchratgebern wird die antike Poetik zwar immer noch häufig als Grundlage gefeiert, über ein populäres Namedropping geht es doch selten hinaus und auf die Hamartia bzw. ein entsprechendes modernes Konzept wird explizit gar nicht eingegangen. Es ist heute sogar möglich, ein komplettes Germanistikstudium zu absolvieren, ohne jemals dem aristotelsichen Konzept der Hamartia begegnet zu sein.

Aristoteles behandelt die Hamartia in der Poetik, Kapitel 13: der Held der Tragödie soll einen Umschlag vom Glück ins Unglück erleben und zwar "wegen eines Fehlers" (S. 29). Einige Unklarheit besteht immer noch darüber, ob dieser Fehler als punktueller Fehler gemeint ist, der zu einer Wende im Plot führt, oder langfristiger Charakterfehler. Darüber erhält man in den gängigen Definitionen durchaus unterschiedliche Hinweise.Die Hamartia wird in Verbindung mit der Hybris gesehen. Der soeben verlinkte Beitrag ist ungenau: "Hamartia is the fall of a noble man caused by some excess or mistake in behavior" - bei Wilpert dagegen heißt es: "Fehleinschätzung und Verkennung der Situation und entsprechendes Fehlverhalten des Helden". Hamartia bezeichet also die Ursache, nicht das Resultat. Teilweise bleibt es in der Definition offen, ob der Fehler im Charakter des Helden zu finden ist, in seinem Verhalten oder auch nur in seiner Vergangenheit. In der Theologie wird der Ausdruck Hamartia übrigens als Sünde gebraucht - bezeichnet also eine schwerwiegende Verfehlung.

Ein schwerwiegender Charakterfehler wird bei Aristoteles offensichtlich für einen Helden grundsätzlich ausgeschlossen, denn ein solcher würde notwendige Identifikation mit dem Helden (bzw. die Reaktionen Eleos und Phobos) verhindern und somit letzlich die Katharsis zerstören. Ein wirklich fehlerhafter Mensch hätte das Umschlagen von Glück ins Unglück schließlich verdient. Ein weniger schwerwiegender Charakterfehler ist allerdings durchaus im Rahmen. Oedipus weist offenbar sogar mehrere Charakterschwächen auf.

Fuhrmann kommentiert, Hamartia bezeichne die falsche Einschätzung einer Situation durch den Helden aufgrund von mangelnder Einsicht. "Die Hamartia geht offensichtlich nicht aus einer Charakterschwäche hervor (der 'zwischen' den Extremen stehende Held gerät ja nicht wegen seiner Schlechtigkeit ins Unglück), andererseits scheinen eine mehr oder minder durchschnittliche Beschaffenheit des Charakters und die Möglichkeit eines Fehlgriffs einander zu bedingen" (Poetik, S. 118).

Meines Erachtens lässt sich die Frage folgendermaßen logisch klären: Hamartia bezeichnet einen weniger schwerwiegenden (d.h. auf seiner Menschlichkeit beruhenden) Charakterfehler des Helden, der notwendigerweise in einer dramaturgisch zugespitzten Situation zu Tage tritt und i.d.R. einen Wendepunkt einleitet, d.h. die Tragödie auslöst. Hamartia ist damit also nicht der punktuelle Fehler oder der dadurch ausgelöste Wendepunkt, sondern ein schon im Charakter angelegter Fehler. Nur darf dieser nicht so schwer wiegen, dass er den Helden zu einem schlechten Menschen macht. Dass dieser Fehler nun punktuell auftritt, entspricht der Logik einer spannenden nd kohärenten Dramaturgie. Einen charakterlichen Fehler womöglich in langen Monologen auszuwälzen, hätte damals wie heute vermutlich keinen Erfolg: er muss pointiert zu Tage treten und die Handlung voranbringen.

Eine Nähe zur dramatischen Ironie ist der Hamartia nicht abzusprechen. Dafür sollte man dramatische Ironie nicht im engeren Wortsinn auf die Replik einer Figur beziehen, die durch der Figur unbekannte Umstände einen ironischen Sinn erhält, sondern nach Pfister auch auf außersprachliches Verhalten, das für die Rezipienten, aufgrund ihrer überlegenen Informiertheit eine den Intentionen der Figur widersprechende Zusatzbedeutung erhält. Der Effekt ist klar: der Rezipient weiß, dass der Held einen Fehler macht und reagiert entsprechend emotional. Die diskrepante Informiertheit ist eine der wichtigsten dramaturgischen Ressourcen, aus der Fehleinschätzungen - wie sie für die Hamartia zentral sind - entstehen.

Da die Anforderungen an einen Helden heute andere sind als zu Aristoteles' Zeiten, kann man dieses Konzept nicht direkt übertragen. Gladiator Maximus erlebt den Umschwung von Glück ins Unglück zwar durch ein Verkennen der Situation, doch sein einziger charakterlicher Fehler ist sein zu großes Vertrauen. Jack Dawson - Protagonist von Titanic - den man sicherlich in gewisser Weise als Held des Films bezeichnen kann, stürzt ins Unglück aufgrund der groben Fehleinschätzung eines anderen. (Die ideologische Lesart, dass er damit die schicksalhafte Sanktion seiner ständeübergreifenden Liebe erlebt, ist allerdings durchaus zulässig.) Ein sehr beliebter Gebrauch sowohl des charakterlichen Fehlers als auch der fatalen Fehleinschätzung findet in romantischen Komödien statt. Allerdings mit einer ganz anderen Konseqenz als im antiken Drama. Dieser Fehler ist in romantischen Komödien - notwendigerweise - reversibel. Die Charakterschwäche wird korrigiert, die Fehleinschätzung revidiert und sie lebten glücklich und hatten viele Kinder.

Die Dramaturgie sollte sich davor hüten, antike Konzepte zu vergessen oder als überholt abzutun. Oft können sie dabei helfen, das Potenzial einer Geschichte besser auszuschöpfen, indem bestimmte Aspekte akzentuiert werden. Deshalb lohnt es sich, auch die Hamartia im Hinterkopf zu behalten.

Siehe auch:
>> Valediction
>> 123 helpme

>> Die Hamartia im Death Metal will ich auch nicht verschweigen: 1., 2.

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