Sonntag, Juli 02, 2006

Die digitale Identität - Ansätze aus Linguistik und Literaturwissenschaft

Die digitale Identität wird mit der Verbreitung von Social Software und dem sogenannten Web 2.0 zu einem wichtigen Thema - nicht nur für Unternehmen, die auf eine umfassende Wahrnehmung und gute Reputation (online wie offline) angewiesen sind, auch für Privatleute, die ihre digitale Identität möglicherweise völlig ungewollt erhalten (schon durch einen unterschriebenen Leserbrief an eine Tageszeitung oder die Mitgliedschaft in Vereinen wird man oft "googlebar").

Elizabeth Albrycht zeigt in ihrem Aufsatz "Thinking about Digital Identity"sehr deutlich auf, wie sehr diese Identität als ein virtuelles Konstrukt aus Selbstdarstellung und Fremddarstellung entsteht. Nicht nur die eigene Darstellung formt Identität und Reputation, sonder auch - und das in viel größerem Maße - das durch andere publizierte Fremdbild. Albrycht bezeichnet die moderne Person deshalb als Cyborg: eine reale (das gilt auch für die juristische) Person mit einer künstlichen, digitalen Komponente der Identität. Die Identität ist die Schnittmenge aus einem Netzwerk von anderen digitalen Identitäten.

Im Zusammenhang mit dem Netzwerk ist Albrychts Hypothese der Identität (wenn man diese Überlegung denn schon als Hypothese bezeichnen möchte): "doesn't identity in some ways reflect the sum of our relationships?". Damit wird die Kerneigenschaft der Social Software angesprochen: man schreibt eigene Beiträge, die mit anderen verlinkt sind, man kommentiert fremde Beiträge und bekommt Kommentare eigener Beiträge. Alle diese auf andere bezogenen Äußerungen formen die Identität. Dieser Ansatz entspricht überraschenderweise der Definition des Charakters (d.h. der Identität) der dramatischen Figur bei Manfred Pfister: "als die Summe der Korrespondenz- und Kontrastrelationen zu den anderen Figuren des Textes" (p. 225). Damit ist die Identität allerdings auch nicht nur qualitativ erfassbar, sondern auch quantitativ. Das ist genau die Besonderheit der Social Software: man definiert sich nicht allein über die Qualität der eigenen Aussage, sondern darüber, was man zu anderen Beiträgen sagt bzw. was andere zu den eigenen Beiträgen sagen. Man definiert sich über das Netzwerk.

Die Analyse der Identität - speziell der Unternehmensidentität - kann nach den bewährten Methoden aus der Linguistik und Literaturwissenschaft vorgenommen werden. Die linguistischen Ansätze stellen etwa die kompetenztheoretische Analyse nach Bungarten (in Anlehnung an Chomsky) zur Verfügung. Die Performanz besteht in jeder eigenen Äußerung, wie sie empirisch fassbar ist. Die Kompetenz ist jeweil das Latente, der Performanz zugrunde Liegende, was aus diesen Äußerungen erschlossen werden kann. Besonders interessant ist die von Bungarten hervorgehobene Performanzkompetenz (p. 31), denn diese bezeichnet die Kompetenz, Ziele strategisch umzusetzen. Auch die Performanzkompetenz ist aus der Performanz ableitbar und das wie gesagt quantitativ und qualitativ.

Die qualitative Analyse kann durch die bewährten Methoden der Literaturwisseschaft auf hermeneutischem Wege erfolgen. Letzlich ist ein Selbst- und Fremdbild (die gemeinsam die Identität qualitativ beschreiben) nicht anders zu analysieren als ein lyrischer Text: aufgeteilt in Form und Inhalt. Form: Design, Anordnung, Stil sind ausdrucksseitig von großer Relevanz und lassen wichtige Rückschlüsse auf die Kompetenz zu. Der Inhalt ist erschließbar, z.B. - objektiv - aus einer Analyse der semischen Isotopie. Gleiches gilt nicht nur für die Äußerungen sondern auch für die Beziehungen im Netzwerk an sich, womit sich der Kreis zu Pfisters dramatischer Figur schließt: die eigene Identität definiert sich aus Korrespondenz- und Kontrastrelationen. Das bedeutet, dass man Beziehungen zu anderen Unternehmen und zu Opinion Leadern (z.B. zu A-List-Bloggern) pflegen sollte und das bedeutet auch, dass man Kritik wahrnehmen und darauf reagieren muss. Darauf müssen sich Unternehmen vorbereiten.

Ein Unternehmen ohne hinreichende Performanzkompetenz wird ein besonders schwaches Netzwerk aufweisen und jede Fremdäußerung ignorieren; wahrscheinlich verfügt es nur über eine statische Internetpräsenz, die womöglich seit Jahren nicht überarbeitet wurde. Die Herausforderung an Unternehmen besteht heutzutage darin, die Identität aktiv voranzubringen und sich seine Reputation im Dialog zu erarbeiten. Dialog meint hier gerade nicht, dass man Newsletter herumschickt, welche i.d.R. automatisch gelöscht werden, sondern dass man über die Entwicklung im Netzwerk auf dem Laufenden bleibt (etwa durch Monitoring) und aktiv kommentiert. Das ist sicherlich ein Aufwand, den noch viele scheuen, weil sie denken, diese neue Vernetzung durch Social Software sei eine weitere Luftblase. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich dieses Networking auszahlt bzw. dass eine Unternehmensführung ohne aktive digitale Identität bald gar nicht mehr möglich ist.

Litaratur:
>> Manfred Pfister: Das Drama. München 1988.
>> Theo Bungarten: "Die Unternehmenskultur aus semiotischer und kompetenztheoretischer Sicht. Zur materiellen und 'geistigen' Repräsentationsebene der Unternehmenskultur." In: Ders. (Hrsg.): Unternehmenskultur als Herausforderung für Gesellschaft und Unternehmen. Tostedt 1994, 9-50.

Siehe außerdem:
>> Arbeitsbereich Unternehmenskommunikation Uni Hamburg

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Interessanter Beitrag: Das Thema ist absolut spannend! Daher hab ich das Thema aus Sicht eines Bewerbers betracht. Titel: Selbstmarketing bei Bewerbungen oder das Management meiner Internetpräsenz.
Mehr dazu unter http://identity20.wordpress.com/