Es begann an einem Tag im Januar vor einigen Jahren. Ich brachte Zeitungen zum Altpapier, musste diese etwas quetschen, weil der Container schon so voll war, da grinste mich eine Frau knapp über Sechzig von Gegenüber des Containers an.
„Schauen Sie mal, junger Mann.“ Sie hielt ein Ding hoch, das in besseren Zeiten einmal ein Buch gewesen sein könnte.
Es ist allgemein bekannt, dass Bücher bei einigermaßen guter Behandlung kleine Ewigkeiten halten. Immerhin existieren noch Bücher aus Goethes Besitz und selbst weit ältere Schriften (die Texte von Qumran etc.). Dieses Exemplar jedoch war in einem bemitleidenswerten Zustand. Ich kann es dem vormaligen Besitzer in keiner Weise verdenken, es vom Bücherregal, aus dem Bücherschrank, von unterm wackligen Tischbein oder von woauchimmer in diesen Container gebracht zu haben. Noch bevor ich fragen konnte, weshalb ich mir das anschauen sollte beziehungsweise aus welchem Grund die Dame es überhaupt aus dem Container gefischt hatte, fuhr sie fort:
„Hier sind alte Bücher drin“.
„Ach so!“
„Richtig gut erhaltene alte Bücher.“
„Ach was!“
„Es ist einfach eine Schande, was die Leute so alles wegschmeißen.“
Mittlerweile war sie mit noch anderen alten Schwarten im Arm auf meine Seite des Containers gekommen und ließ ihr soeben errungenes Buch über den Daumen schlurfen. Neben Kaffee-, Schoko- und anderen Flecken entdeckte ich im Gilb eine Jahreszahl. Sie auch.
„Das Buch ist erst vier Jahre alt! Na? Hab' ich nun Glück oder hab' ich Glück?“
Bei entsprechender Behandlung war es also sogar möglich, Bücher besonders schnell altern zu lassen. Dann erst fiel mir die Gesellin der Frau auf. Ebenso freudestrahlend hielt auch sie ein Buch in der Hand, dessen dunkelblauer Einband ahnen ließ, dass es dereinst relativ schön und ziemlich teuer gewesen sein muss.
„Ein Shakepeare!“ Es klang wie Scheeks-Bier. „Den stell' ich mir ins Regal. Schauen Sie mal, wie gut das Buch noch aussieht. Einen Shakespeare habe ich noch nicht, aber schon eine Reihe von Goethe, Schiller und E.T.A. Hoffmann.“ Aufopfernd hielt sie mir ein anderes Buch hin.
„Novellen. Die wollen wir nicht. Interessieren Sie sich für Literatur?“
„Ach nein“, schüttelte ich den Kopf. Diese alten Fetzen konnten höchst wahrscheinlich noch ganz andere Geschichten erzählen, als darin niedergeschrieben waren. Jedenfalls hatte ich Bedenken, diese befleckten Schriften anzufassen. Also machte ich die beiden Damen auf einen kleinen Karton aufmerksam, der vor dem Container stand – zusammen mit einigen Plastiktüten voller Zeitungen. Der Ruf des Entzückens der ersten älteren Dame war so laut, dass gleich noch eine dritte hinzukam.
So schossen jetzt sechs Hände auf den kleinen Karton ein. Die der ersten Frau setzten sich durch. Sie holten mehrere alte Bücher hervor, die zugegebenermaßen noch schlechter erhalten waren als die aus dem Container.
„Schauen Sie nur! Wahre Schätze! Den Leuten geht es doch zu gut, so etwas wegzuschmeißen. Was ist das hier?“ Sie musste das zerknautschte Buch aufschlagen. Der Titel auf dem Umschlag war nicht mehr zu lesen.
„Anorganische Chemie! Das ist ja toll! Das nehm' ich meiner Tochter mit.“
Hach, was hätte ich mich gefreut, wenn mich meine Mutter mit solch einem Werk beglückt hätte.
Im Folgenden förderte die Dame noch einige Bände mit Kurzgeschichten und diverse Comics zutage. Langsam begann ich die Sache interessant zu finden, denn eines der Comichefte kam mir spanisch vor.
„Oh, kann ich das eine Comicheft noch mal sehen?“
„Das sind jetzt meine, die hab ich mir ausgesucht“, belehrte sie mich, ihren kostbaren Besitz verteidigend. Das Heft war tatsächlich in spanischer Sprache, aber derart abgewetzt, dass es mir langsam schlecht wurde.
„Die nehm' ich mir mit für die Kinder. Mensch, ist das toll!“, teilte sie uns mit und wandte sich zum Gehen noch einige prüfende Blicke werfend, ob da nicht doch noch mehr kostbare Bücher wären. Sie ging einige Schritte, da konnte ich sehen, wie sie sich mühsam bückte und erneut laut jubelte. Den Hustenbonbon, welchen sie dort gefunden hatte, packte sie sofort aus und steckte ihn in den Mund.
So einfach sind die kleinen und großen Freuden deutscher Rentnerinnen. Wenn man nur mit offenen Augen durch die Welt geht, ist man schnell um einen Shakespeare, ein olles Chemiebuch, spanische Comics, Hustenbonbons und noch vieles, vieles mehr reicher.
Am folgenden Tag war ich in der S-Bahn unterwegs, wo sich einige Scherzbolde mit einer Packung Kondome vergnügt hatten. Ob sie auch einige im Sinne des Erfinders benutzt hatten, wusste ich nicht und wollte es auch nicht wissen, aber sonst war alles dabei. Aufgeblasene Kondome kugelten am Boden herum, andere Kugeln kondomten unter der Decke klebend. Dann waren eine Menge davon zerrissen und lagen beziehungsweise hingen herum. Einige waren sogar noch eingepackt. In dem Moment fiel mir eine ältere Dame auf, die neben der Tür stand. Auch sie hatte die Präservative entdeckt. Ihr Gesichtsausdruck wurde rasch fröhlich und sie bückte sich nach den Verhütungsmitteln. Mit einem Dieweltistinordnung-Gesicht strahlte sie mich an:
„Schauen Sie mal, junger Mann. Die sind noch eingeschweißt.“ Einige Fahrgäste der S-Bahn hatten ihre Fußabdrücke darauf hinterlassen.
„Die nehm' ich mit für die Kinder. Da können die sich ja noch einen schönen Abend mit machen“, frohlockte sie und stieg aus.
Diese Szenen erinnerten mich an einen Tag in meiner Kindheit, als ich einem Bauern bei der Kartoffelernte zusah. Der hatte dafür so eine Maschine, die man hinter den Trecker spannen musste, die dann die Kartoffeln automatisch ausgegraben und nach Größe sortiert hat. Wie eine Saatmaschine von Vögeln verfolgt wird, die dann die Saat aus den Furchen picken, so wurde die Erntemaschine von einer Schar älterer Frauen verfolgt, die übrig gebliebene Kartoffeln aus den Furchen lasen und in ihre Körbchen steckten. Der Bauer musste tüchtig aufpassen, keine der Frauen zu verletzen. Hinterher konnte ich noch mit anhören, wie die Frauen gegenseitig ihre Ernte begutachteten:
„Ich hab' die größten!“
„Ich hab' die schönsten!“
„Hach, ist das toll!“
„Ihre sehen aber matschig aus!“
„Die matschigen kann man dann ja zuerst aufbrauchen.“
„Finger weg! Das sind meine!“
Usf.
So sinnierend stieg ich aus der S-Bahn und stolperte fast über eine danieder gehockte ältere Dame, die einen neuwertigen, wirklich gut aussehenden dunkelblauen Blazer in der Hand hielt. Sie schnitt ein Gesicht wie Weihnachten, stand mit glänzenden Augen auf und sagte:
„Schauen Sie mal, junger Mann. Noch ganz neu, es ist wirklich eine Schande, was die Leute so alles...“ Und da traf sie auch schon die Handtasche der anderen alten Dame ins Gesicht, die ihre Hertie-Tüte mit dem neu gekauften Blazer nur kurz abgestellt hatte, um sich die Nase zu putzen. Ich glaube, als ich hinter einer Plakatwand Schutz suchte, haben sie die beiden Damen schlimme Verletzungen zugefügt.
Langsam schien es mir völlig normal, sich über die abgelegten Dinge anderer zu freuen und ich fühlte ein Befremden, dass ich noch nicht selbst etwas aufgesammelt hatte – mit dem Gesicht eines von Gott Beschenkten. Ich ging an einer eigentlich gut gekleideten alten Dame vorbei, die einen Abfallkorb inspizierte und ließ meinen Blick von links nach rechts über den Boden streifen. Schon nach wenigen Metern hatte ich Glück. Auf dieser Fläche war am Vormittag Wochenmarkt gewesen. Von einem Obst- und Gemüsestand – offenbar – waren zwei Orangen hinab gerollt und lagen jetzt so da. Ich jubelte innerlich und bückte mich. Da überwältigte mich eine alte Dame von hinten. Mit den Worten: „Ich hab' die Apfelsinen zuerst gesehen!“, streckte sie mich mittels eines Faustschlags zu Boden.
In der Zeit, in der ich ohnmächtig war, muss mich eine ältere Dame aufgesammelt haben. Jedenfalls wachte ich in einem roten Backsteinhaus vor den Toren Hamburgs auf, wo man mir erklärte, dass ich ab sofort der Familie G*** gehörte und dass es doch eine Schande sei, „was die Leute so alles wegwerfen“. Ich sollte doch am besten damit beginnen, Holz zu hacken. Erst nach zwei Jahren gelang mir die Flucht.
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