Dienstag, September 12, 2006

Münchhausen-Overkill

Der Spiegel berichtet über die Aufdeckung von lonelygirl15: ihr Name gehört einer Agentur aus Hollywood und die schnellen Schnitte (z.B. im Badevideo der schnellen Schnitte *SCNR*) belegen entweder krasses Freaktum oder professionelle Produktion. Viele lieben sie, doch sie ist eine Lüge. Ein Kunstgesicht der Werbewelt. Auch Philipp Retingshof, der noch so sehr seine Authentizität beteuert, ist eine Lüge im Dienste fremder Interessen. Selbst der Schlüssel mit dem arglose (wenn auch nicht ganz ARG-lose *again*) Blogger gespamt werden, passt gewiss zu keinem schnieken Benz. Marken werden zu myspace-Friends, Blogger mit Spritgeld bestochen, das Marketing schreibt seine Testberichte selbst. Alles Fake, alles Lüge, alles Konsum. Die Credibility geht über'n Jordan. Das haben wir es nun, Web 2.0, allein der Name erzeugt bei vielen Juckreiz. Dort darf gesimpelt und gesampelt werden, jedes Wort ein Link. Man liest Stunde um Stunde in hohler Netzwelt, denn jeder ist jetzt Journalist. Jeden morgen erwartet uns der Overkill im Newsreader, nebst Links über Links. Zu allem Überfluss ist der Schmonzes viral, wird weitergetratscht und verspamt unsere Postfächer. Zähneputzen um 10 Arbeitsbeginn um 1, Augen gerötet, schnell ist der Tag um. Das schöne neue Web erzeugt dermaßen Noise, dass selbst Gott nicht mehr zur Welt durchdringt, wie kürzlich auch Papst Benedikt XVI festgestellt hat. Und alles nur erstunken (im Web, nicht der Papst). Blog-Barde Don Alphonso - der auch fortwährend seine Authentizität beteuert - deckt wacker Lügner um Lügner auf und regelmäßig darf man ihm beim Abkotzen zuhören. Auch Ami Renetto bricht mit, wenn die Lügner loslügen. Doch damit werden auch die beiden Teil des neuen Unterhaltungskomplexes. Bemüht man den alten Genette bewegen wir uns hier längst nicht mehr auf der Realebene eines Rainer Meyer, sondern in der Welt der Figuren und Erzähler, deren impliziter Autor die Welt vor der neuen Seifenblase warnen will und jeden Dotcomtod zelebriert.

Doch was ist das Fazit? - Wir erleben hier den interessanten Moment, wo ein interaktives Medium dabei ist, sich selbst zu definieren. Ein Dorado für die Medienwissenschaft. Außerdem sieht man hier sehr schön neue Strukturen des Erzählens - also auch ein Dorado für die Narratologie (hier gibt es offensichtlich mehrere Erzähler unterschiedlicher Ordnung).

Jede Daily-Soap erzählt Geschichten und niemand beschwert sich. Kosmetikfirmen bezahlen das und niemand schreit auf. Die jüngsten ARGs haben bewiesen, dass eine Menge Arbeit darin steckt und die braucht Kapital. Der arme Philipp R. kommt nicht mehr zum Restaurieren, das er eigentlich gelernt hat, trotzdem will auch seine Miete bezahlt werden. Das Web 2.0 findet hier gerade neue Genres und dankenswerterweise fanden sich auch schon Firmen, welche das Ganze sponsern. Wem das zu kommerziell ist, der soll halt Mäzene werben für diese neue Kunst. Dieses Genre ist vermutlich vorwiegend trivial, doch wer ist das nicht? Das Potenzial für E-Formen ist neben den U-Formen (um diese zweifelhaften Begriffe aus dem Themenfeld Musik zu nehmen) zweifellos gegeben.

Und ob der Dramaturg nun als Storyliner bei GZSZ oder bei "Hustle the sluff" arbeitet, ist auch Wurscht. Würden sie doch wenigstens Dramaturgen beschäftigen und nicht alles auf die BWL-Praktikanten oder Creative-Fuzzis abwälzen.

Ich freue mich auf die nächste Lüge.

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